In den vorangehenden Teilen unserer Serie zum kleinen Einmaleins der tariflichen Auseinandersetzungen haben wir bereits wichtige Themen behandelt, die im Rahmen eines Arbeitskampfes von Bedeutung sind. Teil 1 widmete sich dem Zutrittsrecht der Gewerkschaft zum Betrieb während in Teil 2 die Rolle des Betriebsrats im Arbeitskampf im Fokus stand. In Teil 3 haben wir schließlich konkrete Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers auf einen drohenden Arbeitskampf aufgezeigt.
Im vierten und letzten Teil unserer Reihe stellen wir die Spielregeln im Arbeitskampf vor. Trotz der angespannten Verhandlungssituation und der erhitzten Gemüter müssen sowohl die Gewerkschaft als auch der Arbeitgeber innerhalb eines bestimmten Rahmens agieren, der die Interessen beider Seiten und auch unbeteiligter Dritter berücksichtigt. Ein Streik soll primär dem Arbeitgeber schaden und keine Schädigung der Allgemeinheit bewirken. Es kann ein schwieriges Unterfangen sein, diese divergierenden Interessen vernünftig in Einklang miteinander zu bringen; die Rechtsprechung hat jedoch Leitplanken aufgestellt, die hierbei Orientierung bieten können. Gesetzliche Regelungen sucht man vergebens und es bleibt abzuwarten, ob sich eine neue Regierung zeitnah mit einem kodifizierten Arbeitskampfrecht, zum Beispiel im Bereich der Daseinsvorsorge, beschäftigt.
1. Ausgangspunkt: Ein Arbeitskampf muss verhältnismäßig sein
Wesentliches Element eines Streiks ist die damit verbundene Arbeitsniederlegung. Das Streikrecht und die Teilnahme am Streik sind durch Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich geschützt. Ein Streik soll den Arbeitgeber unter Druck setzen und darf ihn wirtschaftlich schädigen. Die wirtschaftliche Schädigung des Arbeitgebers ist vielmehr sogar das zentrale Ziel eines jeden Arbeitskampfes. Dennoch muss bei Warnstreiks und Erzwingungsstreiks stets ein Mindestmaß an Rücksichtnahme im Hinblick auf die Interessen des Arbeitgebers oder der Allgemeinheit gewährleistet sein. Ein Streik darf nicht zum Ziel haben, die wirtschaftliche Existenz der Gegenseite zu vernichten. Betriebsmittel des Arbeitgebers dürfen daher nicht beschädigt oder vernichtet werden.
An dieser Stelle kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ins Spiel. Hiernach ist ein Streik nur dann rechtmäßig, wenn er für die Erreichung des bezweckten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist.
2. Gewährleistung von Notdienstarbeiten
Eine besondere Ausprägung dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist die Sicherstellung sogenannter Notdienstarbeiten. Diese Arbeiten sollen gewährleisten, dass infolge des Streiks die Betriebsmittel des Arbeitgebers nicht zerstört werden (Erhaltungsarbeiten) oder Gefahren für Dritte und die Allgemeinheit abgewendet werden (Notstandsarbeiten). Sofern diese Arbeiten im Einzelfall erforderlich sind, darf der Arbeitgeber trotz des Streiks Arbeitnehmer zur Arbeit verpflichten – dies gilt auch für streikwillige Arbeitnehmer. Ein Streik, der diese Arbeiten trotz ihrer Erforderlichkeit nicht gewährleistet, ist rechtswidrig und kann gerichtlich untersagt werden.
a) Erhaltungsarbeiten: Sicherung der Betriebsmittel des Arbeitgebers
Erhaltungsarbeiten sollen sicherstellen, dass der Betrieb nach Beendigung des Arbeitskampfes wieder aufgenommen werden kann. Sie dienen dem Erhalt von Betriebsmitteln, die andernfalls unbrauchbar werden würden und sind dem Umfang durchzuführen, der erforderlich ist, um Schäden von Produktionsanlangen abzuwenden, sie instand zu halten oder diese für die Dauer der Arbeitskampfmaßnahme fachmännisch herunterzufahren.
Inhalt und Umfang der Erhaltungsarbeiten beurteilen sich anhand des jeweiligen Einzelfalls, wobei Einigkeit darüber besteht, dass sie auf das zwingend erforderliche Mindestmaß zu beschränken sind. Besondere Handlungspflichten können sich aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften, z.B. dem Immissionsschutz, ergeben. Umstritten ist, ob auch sog. Abwicklungsarbeiten, die den endgültigen Verderb von Halb- und Fertigerzeugnissen verhindern sollen, als Erhaltungsarbeiten anzusehen sind. „Klassisch“ streikbedingte Nachteile, wie z.B. der Verlust von Kunden oder Aufträgen, sind aber regelmäßig hinzunehmen.
b) Notstandsarbeiten: Schutz der Allgemeinheit vor Beeinträchtigungen durch den Streik
Notstandsarbeiten haben eine andere Schutzrichtung und dienen dem Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die mit einer vollständigen Arbeitsniederlegung in dem betroffenen Betrieb verbunden sind. Gewerkschaften sind verpflichtet, bei all ihren Tätigkeiten das Allgemeinwohl zu berücksichtigen. Daher muss auch während eines Streiks sichergestellt sein, dass die Allgemeinheit mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern versorgt ist. Das Streikrecht der Gewerkschaft kann daher eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutz von „Leib und Leben“ der Allgemeinheit erforderlich ist.
Notstandsarbeiten werden in allen Bereichen der Daseinsvorsorge relevant, z.B. Pflege- und Gesundheitseinrichtungen, Wasser- und Energieversorger, Müll- und Abwasserversorgung, Kinderbetreuung oder Personenbeförderungsverkehr. Umstritten ist, welcher Versorgungsgrad durch die Notdienstarbeiten abgesichert werden darf. Anhaltspunkte hierfür bietet das Merkmal der „Lebensnotwendigkeit“ der Dienste oder Waren, die durch den Streik betroffen sind. Je stärker die Bedrohung für Leib und Leben ist, desto eher sind Einschränkungen des Streikrechts zulässig. Bloße Unannehmlichkeiten genügen dagegen nicht. Im Bahnverkehr sind der Allgemeinheit daher mehr Einschränkungen zuzumuten als in der Gesundheitsversorgung. Inhalt und Umfang der Notstandsarbeiten können – ebenso wie bei den Erhaltungsarbeiten – aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorgaben konkretisiert werden. Auch eigene Notdienstpläne des Arbeitgebers, beispielsweise für Wochenend- und Feiertagsarbeit, können herangezogen werden.
3. Regelung der Notdienste im konkreten Fall: Abschluss einer Notdienstvereinbarung
a) Idealfall: Einvernehmliche Regelung mit der Gewerkschaft im Vorfeld zum Streik
Arbeitgeber und Gewerkschaft können die Spielregeln des Arbeitskampfes selbst festlegen, indem sie sich vor dem Streik auf eine Notdienstvereinbarung einigen. Dies ist zwar der Idealfall, aber in der Praxis regelmäßig nicht rechtzeitig umsetzbar. Der Abschluss einer vorherigen Notdienstvereinbarung ist im Übrigen keine Wirksamkeitsvoraussetzung für einen anschließenden Streik. Ausreichend ist, dass Notdienste während eines Arbeitskampfes tatsächlich geleistet werden.
b) Gerichtliche Anordnung von Notdiensten
Kommt keine Einigung mit der Gewerkschaft im Vorfeld zustande, kann der Arbeitgeber die Anordnung von Notdiensten gerichtlich im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens geltend machen. Gewerkschaften sind verpflichtet, die Anordnung von Notdiensten zu dulden, sofern dies zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich ist.
Da die Anordnung dieser Arbeiten einen Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte „Recht auf Streik“ gemäß Art. 9 Abs. 3 GG darstellt, bedarf es einer sorgfältigen Abwägung der gegenseitigen Interessen von Arbeitgeber, Allgemeinheit und Gewerkschaft im Wege der sog. praktischen Konkordanz. Nur wenn die zu befürchtenden Auswirkungen des Streiks auf den Arbeitgeber und die Allgemeinheit als besonders gravierend anzusehen ist, ist eine Einschränkung des Streikrechts zulässig.
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, wer für die Einrichtung und Ausgestaltung von Notdienstarbeiten verantwortlich ist – der Arbeitgeber, die Gewerkschaft oder beide zusammen. Das BAG hat diese Frage bislang offen gelassen. Im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung liegt es jedoch regelmäßig an dem Arbeitgeber, konkret dazu vorzutragen, weshalb die Einrichtung eines Notdienstes erforderlich ist, wie dieser ausgestaltet sein muss und wie viele Arbeitnehmer hierfür erforderlich sind. Im Vorfeld zu einem Streik sollte daher dringend ein Notdienstkonzept ausgearbeitet werden, dass im Einzelfall als Grundlage für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung dienen kann.
Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit in folgenden Betrieben Notdienste angeordnet:
- bei einem Verkehrsdienstleister, der vom Träger der Schulbeförderung mit der Beförderung schulpflichtiger Personen beauftragt ist
- bei einem Blutspendedienst, um eine Grundversorgung mit Blutkonserven zur Notfallversorgung sicherzustellen (als milderes Mittel zu der beantragten Untersagung des Streiks)
- zur Aufrechterhaltung des Betriebs des Elbtunnels, da die ansonsten zu befürchtende Sperrung des Tunnels zu massiven Beeinträchtigungen des Verkehrsflusses und insbesondere von Rettungseinsätzen führt
- im Rahmen der Objektsicherung eines stillgelegten Atomkraftwerks
4. Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitgebers
Zuletzt ist es wichtig zu wissen, dass der Arbeitgeber im Fall eines bestehenden Arbeitskampfes durchaus noch ein „Ass im Ärmel“ haben kann und einem potentiell rechtswidrigen Streik nicht schutzlos ausgeliefert ist. Im Fall der Rechtswidrigkeit eines Streiks (vgl. hierzu Teil 3 unserer Reihe) kann der Arbeitgeber im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens die Unterlassung des Streiks beantragen. Da in diesen Fällen eine besondere Dringlichkeit besteht und schnell agiert werden muss, erfolgt durch die Gerichte keine vollumfängliche, sondern eine bloß summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage. Rechtswidrige Streikmaßnahmen lösen dem Grunde nach auch einen Schadensersatzanspruch gegenüber der Gewerkschaft aus, da sie einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb des Arbeitgebers darstellen. Mittelbare Schäden drittbetroffener Unternehmen sind allerdings nicht zu ersetzen. Einer Fluggesellschaft steht daher kein Schadensersatzanspruch gegen die Gewerkschaft wegen eines Streiks der Fluglotsen zu. Anders als der Unterlassungsanspruch ist der Anspruch auf Schadensersatz nicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, sondern im Hauptsacheverfahren zu klären. Dies kann einige Zeit in Anspruch nehmen.
Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe können für Unternehmen oft zu einer harten Bewährungsprobe werden. Mit frühzeitiger Planung und Vorbereitung sind jedoch auch harte Tarifauseinandersetzungen gut beherrschbar, auch wenn es bei bester Vorbereitung trotzdem immer wieder hitzig und emotional zugehen kann. Daher ist eine kluge Vorbereitung besonders wichtig.