EuGH vom 30.10.2025 – C-134/24 – Tomann sowie C-402/24 – Sewel
Die lang erwarteten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu den Vorlagefragen des Zweiten und des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG) erteilt der möglichen Zeitenwende bei der Massenentlassung eine Absage. Der EuGH folgt insbesondere den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rechtssache Tomann, dass die Massenentlassungsanzeige Wirksamkeitsvoraussetzung für anzeigepflichtige Kündigungen bleibt und eine fehlende Entlassungsanzeige nicht „nachgeholt“ werden kann.
Ausgangslage
Dem Urteil des EuGH vorausgegangen war ein arbeitsrechtlicher Showdown zwischen dem Sechsten und dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts. Den ersten Schritt hat der Sechste Senat gemacht, als er am 14. Dezember 2023 mitteilte, die Rechtsprechung zum Massenentlassungsverfahren nach § 17 KSchG ändern zu wollen. Das Fehlen oder Fehler bei Erstatten der Massenentlassungsanzeige sollten nicht mehr zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen, Fehler im Konsultationsverfahren weiterhin schon. Für diese Rechtssprechungsänderung hatte der Sechste Senat den Zweiten Senat angefragt (vgl. hierzu unsere Blog-Beiträge vom 14. Dezember 2023 und 22. Dezember 2023).
Daraufhin hat der Zweite Senat das Anfrageverfahren mit Beschluss v. 01. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A) – ausgesetzt und den EuGH in der Rechtssache Tomann um die Beantwortung mehrerer Fragen zur Auslegung der dem deutschen Recht der Massenentlassung (§§ 17 KSchG ff.) zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstatten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie) ersucht (vgl. hierzu unseren Blogbeitrag v. 05. Februar 2024). Wenig später reichte der Sechste Senat z.T. identische Fragen beim EuGH in der Rechtssache Sewel ein (Beschluss v. 23. Mai 2024, Az. 6 AZR 152/22 (A)), u.a. weil er die Berechtigung des Zweiten Senats zur Vorlage an den EuGH bezweifelt hat.
Die Entscheidungen des EuGH
Nachdem bereits die Schlussanträge des Generalanwalts Norkus vom 27. Februar 2025 in der Rechtssache Tomann die Hoffnung auf einen Rechtsprechungswandel gedämpft hatten, folgt nun die Gewissheit. Der EuGH ist in seiner Entscheidung den Schlussanträgen des Generalsanwalts gefolgt. Zwei Vorlagefragen hat er als unzulässig abgewiesen. U.a. die Frage, inwiefern eine Massenentlassungsanzeige für die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses voraussetzt, dass die inhaltlichen Anforderungen der Richtlinie an eine Entlassungsanzeige erfüllt sind. Grund hierfür war, dass in der zu entscheidenden Rechtssache Tomann überhaupt keine Entlassungsanzeige eingereicht wurde. Daher konnte der EuGH in der Rechtssache die Frage der inhaltlichen Anforderungen für den konkreten Fall als nicht entscheidungserheblich zurückweisen.
Im Übrigen wurde dem angedeuteten Rechtssprechungswandel eine Absage erteilt: Das Erstatten einer Massenentlassungsanzeige ist nach Auffassung des EuGH Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen, wenn die Schwellenwerte für die Pflicht zur Anzeige erreicht sind. Ein Arbeitgeber, der die Anzeige nicht vorgenommen hat, könne die Unwirksamkeit einer Kündigung auch nicht durch eine nachträgliche Anzeige „heilen“. D.h. er kann die Kündigung nicht nachholen mit der Folge, dass die Kündigung nach Ablauf der in § 18 Abs. 1 KSchG und der Massenentlassungsrichtlinie vorgesehenen sog. Entlassungssperre von 30 Tagen, d.h. die Frist für ein frühestmögliches Wirksamwerden von Kündigungen, wirksam wird. Wurde trotz Erreichens der gesetzlichen Schwellenwerte vor Ausspruch einer Kündigung keine Entlassungsanzeige eingereicht, müssen Arbeitgeber erneut kündigen.
Während das Urteil Tomann die Wirksamkeitsvoraussetzung der Anzeige an sich bestätigt hat, befasst sich der EuGH in der Rechtssache Sewel u.a. mit der Frage, welche inhaltlichen Anforderungen eine Entlassungsanzeige erfüllen muss.
Der EuGH betont, dass die Anzeige der zuständigen Behörde ermöglichen soll, frühzeitig auf die geplanten Entlassungen zu reagieren. Daraus folgert der Gerichtshof, dass eine Anzeige ihren Zweck nicht erfüllen kann, wenn sie den in der Massenentlassungsrichtlinie genannten inhaltlichen Anforderungen nicht genügt. Vorbehaltlich einer weiteren Prüfung durch das nationale Gericht ging der EuGH dabei davon aus, dass die in der Rechtssache Sewel eingereichte Entlassungsanzeige nicht alle erforderlichen zweckdienlichen Angaben im Sinne der Richtlinie enthielt. Eine solche Anzeige könne auch dann nicht der Richtlinie genügen, wenn die Behörde die fehlerhafte oder unvollständige Anzeige nicht beanstandet.
Anders als in der Rechtssache Tomann konnte der EuGH die weitere Vorlagefrage des Sechsten Senats, ob eine fehlerhafte Entlassungsanzeige nachträglich korrigiert, ergänzt oder nachgeholt werden kann, für den konkreten Fall als nicht entscheidungserheblich zurückweisen.
Die weitere Vorlagefrage des Sechsten Senats betraf die Frage, ob es unionsrechtlich als Sanktion für eine fehlerhafte oder unvollständige Entlassungsanzeige ausreicht, wenn die in der Richtlinie in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 vorgesehene 30-tägige Entlassungssperre nicht zu laufen beginnt. Nach dem Gerichtshof lege die Richtlinie mit dieser Vorschrift als Rechtsfolge „lediglich“ fest, dass Massenentlassungen frühestens 30 Tage nach einer ordnungsgemäßen Entlassungsanzeige wirksam werden könnten. Daneben verlange Art. 6 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten wirksame, effiziente und verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen, um die Einhaltung der Vorgaben der Richtlinie zu erreichen. Daher sei es nicht ausreichend, wenn bei einer fehlerhaften oder unvollständigen Anzeige einer beabsichtigten Massenentlassung die in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 vorgesehene Frist von 30 Tagen nicht läuft. Die Mitgliedstaaten hätten weiteren Sanktionen vorzusehen.
Folgen der Entscheidung
Es bleibt also erstmal alles beim Alten. Massenentlassungsanzeigen bleiben Wirksamkeitsvoraussetzung für anzeigepflichtige Kündigungen und eine nachträgliche „Heilung“ einer anfänglich unterlassenen Anzeige soll nach unionsrechtlichen Grundsätzen nicht möglich sein.
Bleibt ein Hoffnungsschimmer, dass wenigstens die inhaltlichen strengen Anforderungen an Massenentlassungsanzeigen gelockert werden? Der EuGH hat in seinem Urteil zur Rechtssache Tomann zwar offengelassen, ob eine Massenentlassungsanzeige auch inhaltlich vollständig und ordnungsgemäß sein muss, damit Kündigungen wirksam sind. In der Rechtssache Sewel hat der Gerichtshof jedoch klargestellt, dass eine Entlassungsanzeige unionsrechtlich den in der Richtlinie vorgesehenen inhaltlichen Vorgaben erfüllen muss. Spannend bleibt, was das BAG aus den Ausführungen des EuGH zur Sanktion bei fehlerhaften Entlassungsanzeigen macht. Liest man beide Urteile im Zusammenhang, so dürfte die vom Sechsten Senat des BAG erwogene Abkehr von der Unwirksamkeit von Kündigungen bei Anzeigeverstößen fraglich und allenfalls in engen Grenzen möglich sein. Der Praxis kann jedenfalls nur dazu geraten werden, weiterhin größte Sorgfalt beim Erstatten von Massenentlassungsanzeigen zu wahren.






