Der 14.12.2023 war bei allen Arbeitsrechtlern rot im Kalender markiert: Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte eine Grundlagenentscheidung zum Konsultations- und Massenentlassungsverfahren nach § 17 KSchG angekündigt. Und der Sechste Senat hat nicht enttäuscht. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung hat der Sechste Senat heute mitgeteilt, dass er beabsichtigt, die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Kündigungen wegen fehlender oder falscher Massenentlassungsanzeige aufzugeben. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Sechste Senat jedoch nicht im Alleingang „drehen“ und hat deshalb den Zweiten Senat hierzu angefragt. Der nächste rote Marker im Kalender wird also zu setzen sein.
1. Hintergrund
Bisher geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass viele Verstöße gegen die gesetzlichen Vorgaben des § 17 KSchG im Rahmen des Konsultationserfahrens oder bei Erstatten einer Massenentlassungsanzeige wie die falsche Bestimmung des „Betriebs im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie“ oder eine unzutreffende Bemessung der „in der Regel beschäftigten Mitarbeiter“ zur Unwirksamkeit aller erfassten Kündigungen führen.
Diese strenge Sichtweise wurde in juristischen Schrifttum zurecht vielfach kritisiert. Sie hat u.a. dazu geführt, dass in der anwaltlichen Praxis häufig mit einer großen Anzahl von vorsorglichen Massenentlassungsanzeigen gearbeitet wird, um möglichst für jede denkbare Konstellation eine wirksame Massenentlassungsanzeige erstattet zu haben („gehört die entlegen gelegene weitere Betriebsstätte ggf. auch zu dem zu schließenden Betrieb, jedenfalls im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie?“ usw.). Mit dem primären Zweck des Anzeigeverfahrens, der insbesondere in der Förderung der Arbeitsvermittlung der von Entlassungen betroffenen Mitarbeiter liegt, hat das wenig zu tun. Dennoch hat das Bundesarbeitsgericht seit mehr als zehn Jahren am strikten Sanktionssystem für Verstöße gegen § 17 KSchG festgehalten.
Wie im Mai bereits in unserem Blog berichtet (Seitz – Keine Unwirksamkeit von Kündigungen bei fehlerhafter Massen-Entlassungsanzeige? Eine Kehrtwende in der Rechtsprechung deutet sich an! (seitzpartner.de)), hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts mit seinem Aussetzungsbeschluss vom 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A) erstmals infrage gestellt, ob die Rechtsfolge der Unwirksamkeit von Kündigungen bei Verstößen gegen § 17 KSchG europarechtskonform ist. Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs hatte in seinen Schlussanträgen in anderer Sache vom 30. März 2023 (C‑134/22) zuvor die Tür zu einer Abkehr vom derzeitigen deutschen Verständnis geöffnet.
2. Die heutige Entscheidung des Sechsten Senats
Die für heute, 14. Dezember 2023, vom Sechsten Senat angekündigten Entscheidungen hierzu wurden dementsprechend mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Und tatsächlich verfolgt der Sechste Senat den Weg zu einer Kehrtwende weiter.
Ausgangspunkt waren mehrere Verfahren des Sechsten Senats (6 AZR 157/22, 6 AZR 155/21 und 6 AZR 121/22), in denen verschiedene Verstöße gegen die Vorgaben des § 17 KSchG Gegenstand waren. Gegenstand des Verfahrens 6 AZR 157/22 war dabei ein Rechtsstreit, in dem ein Arbeitgeber trotz Überschreiten der in § 17 Abs. 1 KSchG vorgesehenen Schwellenwerten keine Massenentlassungsanzeige gestellt hatte. Nach bisheriger Rechtsprechung des Zweiten und Sechsten Senats ein klarer Fall, bei dem alle erfassten Kündigungen unwirksam waren.
Entgegen dieser Rechtsprechung hat der Sechste Senat in den Verfahren 6 AZR 157/22 (B), 6 AZR 155/21 (B) und 6 AZR 121/22 (B) heute mitgeteilt, dass er beabsichtigt, seine Rechtsprechung aufzugeben, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot im Sinne von § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt.
Da diese Änderung der Rechtsprechung jedoch von der bisherigen Rechtsprechung auch des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts seit dessen Urteil vom 22. November 2012 (Az.: 2 AZR 371/11) abweichen würde, hat der Sechste Senat eine sog. Divergenzanfrage an den 2. Senat gestellt. Das Arbeitsgerichtsgesetz verlangt insofern grundsätzlich, dass ein Senat des Bundesarbeitsgerichts, der – wie vorliegend – von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen möchte, zunächst bei diesem Senat eine Anfrage stellt, ob er an seiner Rechtsauffassung festhält (§ 45 Abs. 3 ArbGG).
Sollte der 2. Senat an seiner bisherigen Auffassung festhalten, läge die Entscheidung über das Sanktionssystem des § 17 KSchG in den Händen des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts (gebildet aus der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, je einem Berufsrichter der neun weiteren Senate, in denen die Präsidentin nicht den Vorsitz führt, und je drei ehrenamtlichen Richtern aus dem Kreis der Arbeitnehmer und Arbeitgeber).
3. Wie geht es weiter?
Solange nicht klar ist, ob auch der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts die Kehrtwende für eine Abkehr vom bisherigen Sanktionssystem mitträgt oder der Große Senat zu entscheiden hat, besteht bis auf weiteres keine Klarheit darüber, ob und welche Verstöße gegen Vorgaben des § 17 KSchG zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen. Auch bleibt vorerst offen, ob ggf. eine andere der im juristischem Schrifttum diskutierten Rechtsfolgen oder ein differenziertes Sanktionssystem zur Anwendung kommen wird (vgl. hierzu etwa Schubert/Schmitt, „One sanction fits all?”, Jahrbuch des Arbeitsrechts, Band 59, Seite 81 ff.).
Durch die Divergenzanfrage des Sechsten Senats besteht aber jedenfalls Anlass zur Hoffnung, dass die Anforderungen des § 17 KSchG im Rahmen des Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahren bei Restrukturierungen künftig auf ein sinnvolles Maß zurückgeführt werden. Bis es so weit ist, bleibt weiterhin größte Sorgfalt bei Durchführung von Konsultationsverfahren und der Erstattung von Massenentlassungsanzeigen zu wahren.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch der vom Sechsten Senat angerufene Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts Entscheidungen zu § 17 KSchG zu treffen hatte: In den Verfahren 2 AZR 275/22, 2 AZR 146/22 und 2 AZR 114/22 hat der Senat u.a. seine Entscheidung vom 19.05.2022 – 2 AZR 467/21 – bekräftigt, wonach das Fehlen der sog. Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer nicht zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige führt (vgl. hierzu unseren Blog-Beitrag aus Mai 2022: Seitz – “Soll” ist wieder “Soll” – BAG sorgt für (etwas) Klarheit bei der Massenentlassungsanzeige (seitzpartner.de)).