Landesarbeitsgericht Niedersachsen vom 18. April 2024 – 6 Sa 416/23
Das LAG Niedersachsen hat in einem jüngst veröffentlichten Urteil entschieden, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB), die unter Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) ausgestellt wurde, als erschüttert anzusehen ist.
Fakten
Die Arbeitnehmerin machte gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber Entgeltansprüche für den Monat Dezember 2022 geltend und stützte diese insbesondere auch auf eine vermeintliche krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vom 12. Dezember 2022 bis zum 13. Januar 2023. Hintergrund hierfür sei eine langwierige Magen-Darm-Infektion gewesen. Die Arbeitnehmerin legte hierfür zunächst eine Erstbescheinigung über ihre Arbeitsunfähigkeit vom 12. Dezember bis zum 14. Dezember 2022 vor, die nach einem Telefongespräch mit ihrer Ärztin ausgestellt wurde. Daran anschließend legte sie eine Folgebescheinigung vom 19. Dezember bis zum 21. Dezember 2022 vor, die diesmal von einem anderen Arzt (allerdings aus derselben Praxisgemeinschaft) wiederum aufgrund eines Telefongesprächs ausgestellt wurde. Derselbe Arzt erteilte schließlich noch eine Folgebescheinigung vom 22. Dezember 2022 bis zum 13. Januar 2023.
Der Arbeitgeber verweigerte daraufhin die Auszahlung der Entgeltansprüche und verwies für den o.g. Zeitraum darauf, dass die Arbeitnehmerin tatsächlich nicht erkrankt gewesen sei und der Beweiswert der von ihr vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sei.
Entscheidung
Soweit die Arbeitnehmerin ihre Entgeltansprüche auf die behauptete Arbeitsunfähigkeit stützte, wies das Gericht ihre Klage ab, da sie keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) hatte. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen war insoweit erschüttert, da die Bescheinigungen unter Verstoß gegen die AU-RL ausgestellt wurden. Denn während die Erst- sowie die erste Folgebescheinigung ohne jeden persönlichen Kontakt, rein aufgrund von Telefonaten ausgestellt wurden und damit gegen die (damals geltende) AU-RL verstießen, erfolgte die zweite Folgebescheinigung für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen und verstieß damit ebenfalls gegen die AU-RL.
Konkret sah die damals geltende Fassung der AU-RL in § 4 Abs. 5 vor, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung, die entweder unmittelbar persönlich oder mittelbar persönlich im Rahmen einer Videosprechstunde erfolgen muss, ausgestellt werden darf. Eine „telefonische Krankschreibung“ sah die AU-RL in der damaligen Fassung nicht vor. Bezüglich der Dauer der Arbeitsunfähigkeit regelte § 5 Abs. 5 der damaligen AU-RL, dass diese nicht für mehr als zwei Wochen im Voraus bescheinigt werden soll. Lediglich bei besonderen Krankheitsverläufen ist eine längere Krankschreibung zulässig. Derartiges hat die Arbeitnehmerin jedoch weder dargelegt noch unter Beweis gestellt.
Der Arbeitnehmerin gelang es im weiteren Verlauf auch nicht, die Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruchs im Übrigen darzulegen und zu beweisen. Das Gericht stellte insbesondere klar, dass die pauschale Behauptung einer Erkrankung, ohne weiterführenden Vortrag zu konkreten Beschwerden sowie ärztlich verordneten Verhaltensmaßregeln und/oder Medikamenten, nicht ausreicht.
Bedeutung für die Praxis
Zwar hält auch das LAG Niedersachsen an dem normativ begründeten hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung fest. Das bedeutet, dass Arbeitgeber bei Streitigkeiten über das tatsächliche Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit weiterhin konkrete Umstände darlegen und beweisen müssen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. Erfahrungsgemäß fällt es Arbeitgebern in der Praxis aufgrund der bestehenden Informationsasymmetrie regelmäßig trotz begründeter Verdachtsmomente schwer, diese Hürde zu überspringen. Umso begrüßenswerter, dass besonders die jüngere Rechtsprechung, die durch das hier skizzierte Urteil fortgesetzt wird, dieses Ungleichgewicht korrigiert und eine Reihe von Indizien anerkennt, die grundsätzlich geeignet sind, den Beweiswert einer AUB zu erschüttern.
So hat das BAG bspw. bereits entschieden, dass eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit den Beweiswert der AUB erschüttern kann. Daneben können bspw. die Ankündigung einer Arbeitsunfähigkeit, die Krankschreibung nach Ablehnung eines Urlaubsantrags oder auch die Nutzung von z.T. fragwürdigen Online-Angeboten, die allein auf Basis eines auszufüllenden Fragebogens eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen, zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB führen.
Einen weiteren Ansatzpunkt hat das LAG Niedersachsen nun geschaffen, indem es entschieden hat, dass der Beweiswert einer unter Verstoß gegen die AU-RL ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert anzusehen ist. Zu beachten ist dabei jedoch, dass nicht jeder Verstoß gegen die AU-RL auch geeignet ist, den Beweiswert der AUB zu erschüttern. Insbesondere formale Vorgaben, die in erster Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und lediglich das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, sind nach Ansicht des Gerichts in der Regel unbeachtlich. Für den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung relevant sind hingegen sämtliche Regelungen, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellung der Arbeitsunfähigkeit beziehen.
Dabei handelt es sich nach Entscheidung des Gerichts konkret um die Regelungen zu der Art und Weise der ärztlichen Untersuchung sowie der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Demnach ist nach Rechtsprechung des LAG Niedersachsen der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert anzusehen, wenn diese ohne Hinzutreten besonderer Umstände für eine Dauer von mehr als zwei Wochen ausgestellt wird.
Eine telefonische Krankschreibung ist zwischenzeitlich zwar (wieder) unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Diese Möglichkeit besteht allerdings nur für Versicherte, die dem ausstellenden Arzt bzw. der jeweiligen Praxis bereits aufgrund früherer Behandlung unmittelbar persönlich bekannt sind. Ist dies der Fall, ist die telefonische Krankschreibung jedoch auch nur dann zulässig, wenn der Arbeitnehmer keine schwere Symptomatik aufweist und die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nicht im Rahmen einer Videosprechstunde möglich ist. Die telefonische Erstbescheinigung soll dabei einen Zeitraum von fünf Kalendertagen nicht überschreiten. Folgebescheinigungen per Telefon dürfen nur ausgestellt werden, wenn der Patient zuvor persönlich untersucht wurde.
Fazit
Bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit kann es sich lohnen, einen Blick in die AU-RL zu werfen und zu prüfen, ob die Regelungen, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellung der Arbeitsunfähigkeit beziehen, bei Erteilung der AUB gewahrt wurden. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass der von den Gerichten angenommene hohe Beweiswert der AUB lediglich einer vom Arzt in Papierform an den Arbeitnehmer ausgehändigten Bescheinigung zukommen kann. Die im Rahmen des elektronischen Meldeverfahrens von der Krankenkasse zum Abruf bereitgestellten Daten („elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“) sind hingegen anders zu bewerten. Denn bereits aus der Gesetzbegründung ergibt sich, dass der Gesetzgeber selbst bzgl. der elektronischen AUB von einem geringeren Beweiswert ausgeht. Künftig wird es in entsprechenden Rechtsstreitigkeiten also auch darauf ankommen, ob der Arbeitnehmer überhaupt eine AUB in Papierform vorlegen kann.