Ob die Steuer bei einer Steuerhinterziehung aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können, ist für die Beurteilung der Steuerhinterziehung unerheblich. „Andere Gründe“ sind regelmäßig Tatsachen, auf die sich der Täter zur Rechtfertigung seines Verhaltens im Strafverfahren beruft, obwohl er sie im Besteuerungsverfahren nicht vorgebracht hat (vgl. Jäger in Klein, § 370 AO Rn. 129). Der BGH hat dazu bei einer Umsatzsteuerhinterziehung geurteilt, dass zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang dergestalt besteht, dass die Eingangsumsätze keinen „anderen Grund“ i. S. d. § 370 Abs. 4 Satz 3 AO darstellen. Folge ist, dass die Vorsteuern aus dem Bezugsgeschäft bei der Berechnung der Höhe der Steuerhinterziehung von Rechts wegen unmittelbar mindernd zu berücksichtigen sein können (BGH, Urteil v. 14.10.2020 – 1 StR 213/19).
Sachverhalt
Der verurteilte Steuerhinterzieher war Alleingeschäftsführer und Gesellschafter einer Handels-GmbH, die auf Geheiß eines in China ansässigen Beteiligten eröffnet wurde. Der Beteiligte war der „Kopf“ eines chinesischen Konzerns, der weltweit diverse Online-Handelsunternehmen betrieb. Der Steuerhinterzieher bezog seine Waren größtenteils vom zum chinesischen Konzern gehörenden Unternehmen. Er betrieb einen In- und Export von Waren aller Art, wie beispielsweise von Computerzubehör, Haushalts- und Unterhaltungselektronik, Kamera- und Fotografiezubehör, elektronisches Spielzeug sowie Videospielzubehör. Die Waren wurden überwiegend über die Internetplattformen „Amazon“ und „E-Bay“ vertrieben.
Das Landgericht stellte fest, dass spätestens Ende 2013 das Geschäftskonzept auf Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ausgerichtet wurde. Umsätze, die insbesondere über „Amazon“ in Deutschland, den EU-Staaten und Drittländern erzielt wurden, sollten der Besteuerung in Deutschland entzogen werden. Zur Verwirklichung der Steuerhinterziehung wurden diverse Accounts verwendet. Das Gericht stellte fest, dass mindestens 15 Accounts für die Verkäufe genutzt wurden.
In den Umsatzsteuerjahreserklärungen ab 2014 und in den Umsatzsteuervoranmeldungen der Jahre 2015 bis 2016 wurden nur die Umsätze eines Accounts steuerlich erklärt. Die weiteren Umsätze aus den restlichen 14 Accounts mit einem Gesamtumsatz in Höhe von EUR 45 Mio. wurden verschwiegen. Es wurden zur Verschleierung der Umsätze weder die Einkaufs- noch die Verkaufsrechnungen buchhalterisch erfasst. Dadurch wurden auch die gezahlten Einfuhrumsatzsteuern weder erfasst noch in der Umsatzsteuervoranmeldung deklariert. Das Landgericht stellte zwar eine Steuerhinterziehung von über EUR 4,3 Mio. fest, allerdings ließ es offen, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt die Waren in die jeweiligen Bestimmungsstaaten versendet wurden.
Revision des Angeklagten mit Erfolg
Der BGH stellte in seiner rechtlichen Überprüfung des Urteils zunächst fest, dass die Steuerbarkeit der Umsätze in Deutschland nicht hinreichend festgestellt wurde. Das Landgericht hatte es unterlassen, nähere Feststellungen zu den Bestimmungsstaaten der Lieferungen zu treffen und die Überschreitung der Lieferschwellen (§ 3c Abs. 3 Satz 1, 2 Nr. 2 UStG) zu prüfen. Durch die in der Verhandlung vorhandenen Unterlagen hätten Aussagen über die Zielbestimmungen der Lieferungen getroffen und damit die in Deutschland steuerbaren Umsätze bestimmt werden können. Entsprechend der Anklage sei Gegenstand der prozessualen Tat die Abgabe der unrichtigen Umsatzsteuererklärungen in Deutschland. Deshalb könne in dem Verfahren nicht offenbleiben, welche Umsätze in der deutschen Umsatzsteuererklärung hätten erfasst werden müssen. Damit seien die Mindestfeststellungen für eine Verurteilung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht getroffen worden.
Des Weiteren stellte der BGH fest, dass der Schuldspruch keinen Bestand haben könne, weil der Schuldumfang wegen unterlassener Anrechnung der Vorsteuern gemäß § 15 Abs. 1 UStG nicht ordnungsgemäß festgestellt wurde. In einzelnen Fällen sei nicht auszuschließen, dass aufgrund der anzurechnenden Vorsteuer überhaupt keine Steuerverkürzung eingetreten sei.
Anrechnung der Vorsteuer
Den nicht angemeldeten Umsätzen stünden Eingangsumsätze gegenüber, für die ein Vorsteuerabzug in Betracht kommen könnte. Das Landgericht hatte nämlich festgestellt, dass in der Buchhaltung weniger Einfuhren als tatsächlich durchgeführt und nicht alle festgesetzten und bezahlten Einfuhrumsatzsteuerbeträge erfasst wurden. So seien beispielsweise im Jahr 2015 von insgesamt gezahlten EUR 830.000,00 lediglich EUR 460.000,00 als Vorsteuern geltend gemacht worden.
Kein Entgegenstehen des Kompensationsverbots (§ 370 Abs. 4 Satz 3 AO)
Der BGH stellt zu der Verrechnung der Vorsteuer mit der Umsatzsteuer fest, dass das Kompensationsverbot einer Verrechnung nicht im Wege stehe. Denn nach neuer Rechtsprechung des BGH bestehe bei der Umsatzsteuer zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen unmittelbar ein wirtschaftlicher Zusammenhang, so dass die Eingangsumsätze keinen anderen Grund i. S. d. § 370 Abs. 4 Satz 3 AO darstellen. Deshalb kann bei der Berechnung der Höhe der Steuerhinterziehung zu berücksichtigen sein, dass die Vorsteuern diese mindern.
Praxishinweis: Der BGH stellt damit fest, dass die Verknüpfung zwischen Ausgangs- und Eingangsumsatz so eng ist, dass kein „anderer Grund“ i. S. d. § 370 Abs. 4 Satz 3 AO vorliegt. Das Ganze hilft bei der Verteidigung des Mandanten aber nur dann, wenn für den Eingangsumsatz eine ordnungsgemäße Rechnung vorliegt (vgl. BGH, Urteil v. 13.09.2018 – 1 StR 642/17). Denn der Vorsteuerabzug setzt voraus, dass eine ordnungsgemäße Rechnung gemäß §§ 14, 14a UStG vorhanden ist (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG).