Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich in einem sehr öffentlichkeitswirksamen Urteil mit dem Wiederaufnahmeverfahren eines durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossenen Strafverfahrens wegen Mordes befasst (BVerfG, Urteil vom 31.10.2023 – 2 BvR 900/22). Die Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgte aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, die dringende Gründe dafür bildeten, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes zu verurteilen wäre. Dem BVerfG stellte sich die Frage, ob die Vorschrift zur Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach § 362 Nr. 5 StPO mit der Verfassung, insbesondere Art. 103 Abs. 3 GG – dem sog. „ne bis in idem“-Grundsatz – vereinbar ist. In der Öffentlichkeit wurde das Wiederaufnahmeverfahren emotional diskutiert. Oftmals können diese Diskussionen aufgrund ihrer Emotionalität ausufern und unsachlich werden. Häufig kann die Öffentlichkeit auch den juristischen Diskurs nicht nachvollziehen und empfindet diesen als „kalt“ oder „unmenschlich“. In diesem Beitrag möchten wir Ihnen das Urteil des BVerfG ohne jegliche Wertung zusammenzufassen und Ihnen die juristischen Hintergründe erklären, sodass Sie sich am Ende selbst eine fundierte Meinung über die Urteilsfindung des BVerfG bilden können.
Sachverhalt
Im ursprünglichen Fall wurde ein Mann wegen Mordes nach § 211 StGB angeklagt, jedoch im Rahmen der Hauptverhandlung im Jahr 1983 freigesprochen, da ihm mangels Beweise der Mord am Opfer nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Nach erneuter Durchsicht der seinerzeit gesicherten Beweismittel konnte durch neueste Beweiserhebungstechnik eine DNA-Spur des Freigesprochenen am Tatort nachgewiesen werden. Daraufhin leiteten die Strafermittlungsbehörden das Wiederaufnahmeverfahren nach § 362 Nr. 5 StPO gegen den zuvor Freigesprochenen ein. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten.
Die Urteilsfindung
Der „ne bis in idem“-Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG stellt eine der Grundfesten unseres Strafrechtes dar und gebietet, dass niemand aufgrund derselben Tat mehrmals bestraft werden darf. Das BVerfG beginnt seine Urteilsfindung mit einer lehrbuchartigen Auslegung dieses Grundsatzes. Hierzu fühlt sich das Gericht aus mehreren Gründen gezwungen, denn betrachtet man alleinig den Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG, so ergibt sich lediglich, dass niemand aufgrund derselben Tat mehrmals bestraft werden darf. Der findige Leser erkennt sofort die Fragestellung, die sich aus diesem Wortlaut ergibt: Schützt der Grundsatz nur Personen, die schon einmal verurteilt (also bestraft) worden sind oder auch solche, die im erstmaligen Urteil freigesprochen wurden? Die nicht juristische Allgemeinheit würde einen Freigesprochenen vermutlich nicht als „bestraft“ im klassischen Sinne ansehen. In diesem Sinne müsste Art. 103 Abs. 3 GG also auch vor der mehrfachen Verfolgung schützen.
Weiterhin sieht sich das BVerfG aufgrund des Adressaten des „ne bis in idem“-Grundsatzes zur ausführlichen Auslegung berufen, denn Art. 103 Abs. 3 GG richtet sich gegen die Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden. Das BVerfG hatte im hier besprochenen Urteil jedoch nicht über einen Akt der Judikative (der Gerichte – sprich einem Urteil) oder der Exekutive (der Strafverfolgung – z.B. eine Durchsuchung), sondern über einen Akt der Legislative (der Gesetzgebung – hier dem die Wiederaufnahme erlaubenden § 362 Nr. 5 StPO) zu entscheiden, also über den Akt eines Staatsorgans an den das Mehrfachbestrafungsverbot („ne bis in idem“) eigentlich nicht adressiert ist.
Schutz vor Mehrfachbestrafung oder auch -verfolgung? – Historische Auslegung
Das BVerfG geht zunächst historisch darauf ein, was sich der Gesetzgeber 1948 im Gesetzgebungsverfahren zu Art. 103 Abs. 3 GG gedacht hat und ob er sich der Schwierigkeiten durch den Wortlaut bewusst war. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber zwar durchaus Streitigkeiten mit dem exakten Wortlaut des Artikels ausgesetzt, er sich aber grundsätzlich einig darüber war, dass Art. 103 Abs. 3 GG auch vor der Mehrfachverfolgung schützt, also auch den Freigesprochenen. Mit Blick auf die nationalsozialistische Herrschaft, in der „der Freispruch des Richters dem Freigesprochenen die Freiheit nicht mehr verschaffte“ (Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 14), müsse der „ne bis in idem“-Grundsatz sich als Schranke der uferlosen Durchbrechung des Prinzips der Rechtskraft von Urteilen erweisen.
Die Weiterentwicklung unseres Strafverfahrens
Der „ne bis in idem“-Grundsatz hat sich im Zuge der Aufklärungsprozesse als wichtiger Grundsatz herauskristallisiert, der unser aktuelles Strafverfahren maßgeblich vom bis dato herrschenden inquisitorischen Strafverfahren abgrenzt. Beim inquisitorischen Strafverfahren oblag die Strafverfolgung ausschließlich dem Staat, der im Interesse der Allgemeinheit und der Gerechtigkeit die Wahrheit zu erkennen und durchzusetzen hatte. So entsprach es diesem Interesse, auch nach Abschluss eines Verfahrens, wenn weder Schuld noch Unschuld festgestellt werden konnte, dieselbe Tat erneut zu untersuchen und ggf. auch erneut zu bestrafen. Das Gericht ermittelte selbst die Wahrheit. Diese Art Strafverfahren wurde vom akkusatorischen Strafverfahren abgelöst, bei dem es den Parteien oblag, den Prozessstoff selbst zu sammeln und dem Gericht zu präsentieren. Dies hat sich im sog. Akkusationsprinzip niedergeschlagen. Die Staatsanwaltschaft ist für die eigentliche Strafverfolgung verantwortlich, während die Urteilsfindung in den Aufgabenbereich des Gerichts fällt. Gemäß § 151 StPO ist eine gerichtliche Untersuchung jedoch stets an die Einreichung einer Klage gebunden, was bedeutet, dass das Gericht nicht eigenständig eine Strafverfolgung einleiten kann. Mit diesem Verständnis trifft das Gericht im Strafverfahren eine „Fundamentalentscheidung“, denn für den Beschuldigten stellt unabhängig von seiner tatsächlichen (Un-)Schuld oder dem Verfahrensausgang das Strafverfahren eine erhebliche Belastung dar. Der Rechtsstaat hat bewusst die Entscheidung getroffen, bei nicht behebbaren Zweifeln an der Schuld, nach der Beweisregel „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) zu verfahren und dabei zugunsten des tatsächlich Unschuldigen in Kauf zu nehmen, sich auch – zugunsten eines tatsächlich Schuldigen – irren zu können. In diesem Kontext sichert der „ne bis in idem“-Grundsatz diese bewusste Entscheidung des Staates im Strafprozess ab. Art. 103 Abs. 3 GG verbirgt die Einmaligkeit der Strafverfolgung, nicht bloß die Einmaligkeit der Strafe und schützt über seinen Wortlaut hinaus bereits vor allen Maßnahmen, deren Zweck die mögliche Verurteilung ist.
Das Adressatenproblem
Nicht leicht verständlich ist das Adressatenproblem des Art. 103 Abs. 3 GG. Wie bereits beschrieben, richtet sich das Verbot der Mehrfachbestrafung und -verfolgung zunächst gegen die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden. Dem Sachverhalt nach geht es auf den ersten Blick auch um die Wiederaufnahme einer Strafverfolgung nach einem rechtskräftigen Urteil, sodass man sich durchaus fragen kann, wo hier das Problem liegen mag. Die Antwort liegt im § 362 Nr. 5 StPO selbst. Denn nur aufgrund dieser Vorschrift ist es den Strafverfolgungsbehörden überhaupt möglich, eine erneute Strafverfolgung einzuleiten. Die Frage mit der sich das BVerfG nun also zu beschäftigen hatte und für die es durch den Angeklagten angerufen wurde ist nicht, ob die Exekutive oder die Judikative (in der Vorinstanz) rechtmäßig gehandelt haben, denn diese sind nach § 362 Nr. 5 StPO zur Wiederaufnahme gesetzlich befugt und haben somit gesetzlich rechtmäßig gehandelt, sondern ob der Paragraf an sich mit der Verfassung vereinbar ist. Dies stellt einen Rechtsakt der Legislative dar, also der Gesetzgebung, an die das entsprechende Verbot aus Art. 103 Abs. 3 GG aber nicht adressiert ist. Die Schutzrichtung des Art. 103 Abs. 3 GG müsste sich also auch auf den Schutz gegen die Gesetzgebung erstrecken.
Das BVerfG hält fest, dass der „ne bis in idem“-Grundsatz, gleich der anderen Verfahrensgrundsätze wie „in dubio pro reo“, „nemo tenetur“ (niemand ist verpflichtet sich selbst zu belasten) oder dem Grundsatz der Waffengleichheit vor Gericht, einen absoluten Schutz gewährt. Art. 103 Abs. 3 GG dient der Rechtssicherheit und begrenzt zugunsten dieses Zwecks den staatlichen Strafanspruch. Nur durch die gesicherte Rechtskraft eines Urteils kann der Rechtsfrieden garantiert werden, daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit und gegen die Erreichung des unmöglichen Ideals absoluter Wahrheit entschieden. Diesem Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG und seiner absoluten Wirkung würde es gänzlich widersprechen, wenn sich seine Schutzrichtung nicht auch gegen den das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber richtet.
Die Entscheidung
Das BVerfG hat § 362 Nr. 5 StPO mit einer Stimmenverteilung von 6:2 für nichtig erklärt. Somit fußte die Wiederaufnahme nicht auf einer verfassungsrechtlich haltbaren Grundlage und war rechtswidrig. Abschließend konnten die zwei Richter, welche für die Verfassungskonformität des Gesetzes gestimmt haben, ihre Sicht darlegen. Sie argumentieren vor allem mit Wertungswidersprüchen, auch hinsichtlich der durch die anderen Richter gefassten Entschlüsse.
Fazit
Das Wiederaufnahmeverbot nach § 362 Nr. 5 StPO musste der Rechtssicherheit weichen. Dieses Thema wurde und wird weiterhin stark diskutiert. Für beide Seiten sprechen überzeugende Argumente. Wer sich vor allem die Gegenseite einmal genauer anschauen möchte, sollte sich ab Seite 38 des Urteils die Meinungsfindung der Richter, die gegen die Verfassungswidrigkeit gestimmt haben, durchlesen. Letztendlich hat sich das BVerfG für die Verfassungswidrigkeit des Paragrafen entschieden, denn Art. 103 Abs. 3 GG schützt auch vor erneuter Strafverfolgung. Ebenso bietet Art. 103 Abs. 3 GG einen absoluten Schutz, der sich nicht nur gegen die Rechtsprechung und -verfolgung wendet, sondern auch gegen die Gesetzgebung (Legislative).