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Datum

15. Juli 2024

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LAG Hessen v. 12.3.2024 – 10 GLa 229/24

Keine offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Streiks erforderlich

Selten werden in der arbeitsgerichtlichen Praxis Streiks tatsächlich untersagt. Dies liegt daran, dass viele Gerichte zum Erlass einer einstweiligen Untersagungsverfügung aufgrund der grundrechtlich besonders geschützten Tarifautonomie eine „offensichtliche Rechtswidrigkeit“ eines Streiks fordern. Diese wird in der Regel wohl nur bei – eben offensichtlichen – Verstößen gegen die Friedenspflicht vorliegen. Komplexe Rechtsfragen oder Abwägungen der Verhältnismäßigkeit dürften den Maßstab hingegen regelmäßig nicht erfüllen.

Richtigerweise lehnt das LAG Hessen eine solche tarif- und streikbezogene Erhöhung des Maßstabs zum Erlass einer einstweiligen Verfügung deutlich ab. Es müsse „normal“ geprüft werden. Der Maßstab der „offensichtlichen Rechtswidrigkeit“ verschiebt das arbeitsgerichtliche Gleichgewicht stark zugunsten der streikenden Gewerkschaft – obwohl bei einer Zurückweisung des Antrags dies ebenfalls einer Entscheidung in der Hauptsache gleichkommt, weil ein Streik auch nicht mehr rückabgewickelt werden kann.

Eine Hintertür lässt sich das LAG Hessen allerdings offen: Wenn die Zeit bis zum geplanten Streikbeginn besonders dränge und das Gericht deshalb nicht mit einem überwiegenden Maß der Überzeugung zur Entscheidung einer aufgeworfenen Rechtsfrage gelange, sei der Antrag abzuweisen. Auch wenn man dies praktisch nachvollziehen kann (Beispiel: Gericht erhält Antrag mit komplexen Rechtsfragen vier Stunden vor Streikbeginn), muss das Gericht in den derartigen Ausnahmesituationen dennoch schnell und effizient handeln. Im Sinne einer rechtsstaatlichen Entscheidung zur Sicherung des Justizgewährleistungsanspruchs des einzelnen Arbeitgebers.

Gegenstand der Überprüfung: Streikaufruf, nicht sonstige Kommunikation

Maßgeblich für den Inhalt der mit einem Streik verfolgten Ziele sind nach der Rechtsprechung des BAG die dem Gegner in Form des konkreten von den dazu legitimierten Gremien der Gewerkschaft getroffenen Streikbeschlusses übermittelten Tarifforderungen. Doch kann es auch auf sonstige Verlautbarungen von Gewerkschaftsführern ankommen? Gerade Claus Weselsky äußerte sich mehrfach täglich zu den Tarifforderungen. Darüber hinaus kommunizierte die GDL etwa durch Flyer.

Eine solche Erweiterung auf Verlautbarungen außerhalb der mitgeteilten Tarifforderungen lehnt das LAG Hessen nunmehr ab – anders als noch im Jahr 2015 beim untersagten Pilotenstreik (LAG Hessen v. 9.9.2015 – 9 SaGa 1082/15, NZA 2015, 1337 Rn. 27 ff.). Auf Umstände, die zeitlich vor dem Abschluss der satzungsgemäßen Willensbildung der Gewerkschaft für einen Streikbeschluss liegen, könne es nicht ankommen.

Dies verringert die Fehleranfälligkeit von Streiks nicht unwesentlich. Bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs dürfen Gewerkschaften demnach auch nicht erstreikbare Forderungen in sonstiger Kommunikation aufstellen, solange die maßgebliche, dem Arbeitgeber übermittelte Tarifforderung solche unzulässigen Forderungen nicht beinhaltet. Häufig werden auch erst in arbeitsgerichtlichen Anhörungsterminen ersichtlich rechtswidrige Tarifforderungen „fallen gelassen“.

Es bleibt abzuwarten, ob auch andere Gerichte die einen Streikaufruf begleitende Kommunikation ausblenden. Schließlich öffnet dies im praktischen Tarifgeschehen Tür und Tor für rechtswidrige Forderungen, die unter dem Deckmantel zulässiger, formal mitgeteilter Tarifforderungen durchgesetzt werden sollen.

Der Evergreen: (Un-)Verhältnismäßigkeit von Streiks

Keine Überraschungen beinhaltet die Entscheidung des LAG Hessen zur Verhältnismäßigkeit von Streiks. Das Ergebnis lässt sich kurz zusammenfassen: Streiks werden so gut wie nie unverhältnismäßig sein. Selbst dann nicht, wenn der Vorsitzende der Gewerkschaft öffentlich mitteilt, damit das Produkt des Arbeitgebers absichtlich zu beschädigen („Die Bahn ist damit kein zuverlässiges Verkehrsmittel mehr“).

Tarifpolitisch ist dies zurecht heftig kritisiert worden. Tarifrechtlich hingegen lässt sich wenig einwenden: Nach ständiger Rechtsprechung von BAG und BVerfG besteht ein weiter Beurteilungsspielraum der Tarifparteien hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit von Streikmaßnahmen. Dass man nicht alles tut, was man rechtlich darf, steht hierbei auf einem anderen Blatt. Kein Zufall, dass sich derartige Fragen im Bereich der staatlich finanzierten DB AG stellen. Bei Unternehmen, die im (internationalen) Wettbewerb stehen, gehen Gewerkschaften in der Regel auch mit Augenmaß hinsichtlich der Auswirkungen auf Profitabilität und damit Arbeitsplatzsicherheit vor.

Tarifeinheit schützt nicht vor Streiks

Der viel diskutierte § 4a TVG (Tarifeinheit: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“) schützt nicht vor Streiks von Minderheitsgewerkschaften. Hiermit hatte das BVerfG bereits die Verfassungsmäßigkeit der Regelung maßgeblich begründet, auch das LAG Hessen bezieht sich nunmehr hierauf.

Mit anderen Worten: Nach derzeitiger Rechtslage kann auch eine Minderheitsgewerkschaft streiken, selbst wenn ihr Tarifvertrag nach dem Abschluss nach § 4a TVG verdrängt werden würde. § 4a TVG hat insoweit also, wenn überhaupt, praktische Relevanz: Streiken Mitarbeiter wirklich für einen Tarifvertrag, der nach langwierigem Arbeitskampf gar nicht zur Geltung kommt?

Zu GDL und FairTrain: Müdes Unentschieden statt K.O.-Spiel

„Genialer Schachzug oder klassisches Eigentor?“ fragten wir im Juni 2023 zur Gründung der FairTrain durch die GDL. Heute wissen wir: Statt spannendem Finale gibt es ein müdes Unentschieden.

Das LAG Hessen äußert sich inhaltlich nicht zu den Fragen der Auswirkungen der Gründung der FairTrain und den engen persönlichen Verbindungen der Führungskreise. Zudem wurde im Zuge der Tarifeinigung zwischen DB AG und GDL dem Vernehmen nach vereinbart, dass niemand gleichzeitig in führender Position bei der Genossenschaft sein darf, mit dem die DB auch in künftigen Tarifauseinandersetzungen verhandelt. Einzelheiten sind zwar nicht bekannt. Ob es vor diesem Hintergrund noch zu einer Entscheidung, in der von der DB AG Anfang 2024 eingeleiteten Hauptsache kommt, ist unklar. Es läuft wohl auf ein Unentschieden hinaus.

Ausblick

Die gut begründete Entscheidung des LAG Hessen stellt wichtige Weichen für die Rechtmäßigkeit von Streikmaßnahmen. Umso mehr als das LAG Hessen für viele Konzerne im Raum Frankfurt die letzte Instanz im einstweiligen Rechtsschutz ist. Erfreulich ist, dass das Gericht die Tarifparteien gleich behandelt und eine „normale“ Rechtswidrigkeitsprüfung annimmt. Ob Streiks im Einzelfall rechtswidrig sind, ist stets genau zu prüfen. Angriffspunkte gibt es auch nach der Entscheidung des LAG Hessen genug.

Der Lokführerstreik: Wichtige Weichenstellungen für Streiks

LAG Hessen v. 12.3.2024 – 10 GLa 229/24

Keine offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Streiks erforderlich

Selten werden in der arbeitsgerichtlichen Praxis Streiks tatsächlich untersagt. Dies liegt daran, dass viele Gerichte zum Erlass einer einstweiligen Untersagungsverfügung aufgrund der grundrechtlich besonders geschützten Tarifautonomie eine „offensichtliche Rechtswidrigkeit“ eines Streiks fordern. Diese wird in der Regel wohl nur bei – eben offensichtlichen – Verstößen gegen die Friedenspflicht vorliegen. Komplexe Rechtsfragen oder Abwägungen der Verhältnismäßigkeit dürften den Maßstab hingegen regelmäßig nicht erfüllen.

Richtigerweise lehnt das LAG Hessen eine solche tarif- und streikbezogene Erhöhung des Maßstabs zum Erlass einer einstweiligen Verfügung deutlich ab. Es müsse „normal“ geprüft werden. Der Maßstab der „offensichtlichen Rechtswidrigkeit“ verschiebt das arbeitsgerichtliche Gleichgewicht stark zugunsten der streikenden Gewerkschaft – obwohl bei einer Zurückweisung des Antrags dies ebenfalls einer Entscheidung in der Hauptsache gleichkommt, weil ein Streik auch nicht mehr rückabgewickelt werden kann.

Eine Hintertür lässt sich das LAG Hessen allerdings offen: Wenn die Zeit bis zum geplanten Streikbeginn besonders dränge und das Gericht deshalb nicht mit einem überwiegenden Maß der Überzeugung zur Entscheidung einer aufgeworfenen Rechtsfrage gelange, sei der Antrag abzuweisen. Auch wenn man dies praktisch nachvollziehen kann (Beispiel: Gericht erhält Antrag mit komplexen Rechtsfragen vier Stunden vor Streikbeginn), muss das Gericht in den derartigen Ausnahmesituationen dennoch schnell und effizient handeln. Im Sinne einer rechtsstaatlichen Entscheidung zur Sicherung des Justizgewährleistungsanspruchs des einzelnen Arbeitgebers.

Gegenstand der Überprüfung: Streikaufruf, nicht sonstige Kommunikation

Maßgeblich für den Inhalt der mit einem Streik verfolgten Ziele sind nach der Rechtsprechung des BAG die dem Gegner in Form des konkreten von den dazu legitimierten Gremien der Gewerkschaft getroffenen Streikbeschlusses übermittelten Tarifforderungen. Doch kann es auch auf sonstige Verlautbarungen von Gewerkschaftsführern ankommen? Gerade Claus Weselsky äußerte sich mehrfach täglich zu den Tarifforderungen. Darüber hinaus kommunizierte die GDL etwa durch Flyer.

Eine solche Erweiterung auf Verlautbarungen außerhalb der mitgeteilten Tarifforderungen lehnt das LAG Hessen nunmehr ab – anders als noch im Jahr 2015 beim untersagten Pilotenstreik (LAG Hessen v. 9.9.2015 – 9 SaGa 1082/15, NZA 2015, 1337 Rn. 27 ff.). Auf Umstände, die zeitlich vor dem Abschluss der satzungsgemäßen Willensbildung der Gewerkschaft für einen Streikbeschluss liegen, könne es nicht ankommen.

Dies verringert die Fehleranfälligkeit von Streiks nicht unwesentlich. Bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs dürfen Gewerkschaften demnach auch nicht erstreikbare Forderungen in sonstiger Kommunikation aufstellen, solange die maßgebliche, dem Arbeitgeber übermittelte Tarifforderung solche unzulässigen Forderungen nicht beinhaltet. Häufig werden auch erst in arbeitsgerichtlichen Anhörungsterminen ersichtlich rechtswidrige Tarifforderungen „fallen gelassen“.

Es bleibt abzuwarten, ob auch andere Gerichte die einen Streikaufruf begleitende Kommunikation ausblenden. Schließlich öffnet dies im praktischen Tarifgeschehen Tür und Tor für rechtswidrige Forderungen, die unter dem Deckmantel zulässiger, formal mitgeteilter Tarifforderungen durchgesetzt werden sollen.

Der Evergreen: (Un-)Verhältnismäßigkeit von Streiks

Keine Überraschungen beinhaltet die Entscheidung des LAG Hessen zur Verhältnismäßigkeit von Streiks. Das Ergebnis lässt sich kurz zusammenfassen: Streiks werden so gut wie nie unverhältnismäßig sein. Selbst dann nicht, wenn der Vorsitzende der Gewerkschaft öffentlich mitteilt, damit das Produkt des Arbeitgebers absichtlich zu beschädigen („Die Bahn ist damit kein zuverlässiges Verkehrsmittel mehr“).

Tarifpolitisch ist dies zurecht heftig kritisiert worden. Tarifrechtlich hingegen lässt sich wenig einwenden: Nach ständiger Rechtsprechung von BAG und BVerfG besteht ein weiter Beurteilungsspielraum der Tarifparteien hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit von Streikmaßnahmen. Dass man nicht alles tut, was man rechtlich darf, steht hierbei auf einem anderen Blatt. Kein Zufall, dass sich derartige Fragen im Bereich der staatlich finanzierten DB AG stellen. Bei Unternehmen, die im (internationalen) Wettbewerb stehen, gehen Gewerkschaften in der Regel auch mit Augenmaß hinsichtlich der Auswirkungen auf Profitabilität und damit Arbeitsplatzsicherheit vor.

Tarifeinheit schützt nicht vor Streiks

Der viel diskutierte § 4a TVG (Tarifeinheit: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“) schützt nicht vor Streiks von Minderheitsgewerkschaften. Hiermit hatte das BVerfG bereits die Verfassungsmäßigkeit der Regelung maßgeblich begründet, auch das LAG Hessen bezieht sich nunmehr hierauf.

Mit anderen Worten: Nach derzeitiger Rechtslage kann auch eine Minderheitsgewerkschaft streiken, selbst wenn ihr Tarifvertrag nach dem Abschluss nach § 4a TVG verdrängt werden würde. § 4a TVG hat insoweit also, wenn überhaupt, praktische Relevanz: Streiken Mitarbeiter wirklich für einen Tarifvertrag, der nach langwierigem Arbeitskampf gar nicht zur Geltung kommt?

Zu GDL und FairTrain: Müdes Unentschieden statt K.O.-Spiel

„Genialer Schachzug oder klassisches Eigentor?“ fragten wir im Juni 2023 zur Gründung der FairTrain durch die GDL. Heute wissen wir: Statt spannendem Finale gibt es ein müdes Unentschieden.

Das LAG Hessen äußert sich inhaltlich nicht zu den Fragen der Auswirkungen der Gründung der FairTrain und den engen persönlichen Verbindungen der Führungskreise. Zudem wurde im Zuge der Tarifeinigung zwischen DB AG und GDL dem Vernehmen nach vereinbart, dass niemand gleichzeitig in führender Position bei der Genossenschaft sein darf, mit dem die DB auch in künftigen Tarifauseinandersetzungen verhandelt. Einzelheiten sind zwar nicht bekannt. Ob es vor diesem Hintergrund noch zu einer Entscheidung, in der von der DB AG Anfang 2024 eingeleiteten Hauptsache kommt, ist unklar. Es läuft wohl auf ein Unentschieden hinaus.

Ausblick

Die gut begründete Entscheidung des LAG Hessen stellt wichtige Weichen für die Rechtmäßigkeit von Streikmaßnahmen. Umso mehr als das LAG Hessen für viele Konzerne im Raum Frankfurt die letzte Instanz im einstweiligen Rechtsschutz ist. Erfreulich ist, dass das Gericht die Tarifparteien gleich behandelt und eine „normale“ Rechtswidrigkeitsprüfung annimmt. Ob Streiks im Einzelfall rechtswidrig sind, ist stets genau zu prüfen. Angriffspunkte gibt es auch nach der Entscheidung des LAG Hessen genug.

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