Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.12.2024 – 1 BvR 1109/21, 1 BvR 1422/23
Fakten
Zwei Arbeitgeberinnen stritten mit ihren Arbeitnehmern um die Höhe von Nachtzuschlägen, Ausgangspunkt war dabei die unterschiedliche Behandlung von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit. Die einschlägigen Tarifverträge sahen einen Zuschlag in Höhe von 50% für geleistete (ausnahmsweise und sporadische) Nachtarbeit vor, während für (regelmäßige) Nachtschichtarbeit ein Zuschlag in Höhe von 25% gewährt wurde.
Begründet wurde der höhere Zuschlag für die unregelmäßige Nachtarbeit damit, dass dieser für die Mitarbeiter noch belastender sei, weil man sie – anders als bei regelmäßigen Nachtschichten – nicht planen könne. Die Beschäftigten verklagten ihre jeweilige Arbeitgeberin auf Zahlung der höheren Nachtzuschläge.
In letzter Instanz hatten die Arbeitnehmer vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) Recht bekommen. Für die Ungleichbehandlung war nach dem BAG kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb das Gericht einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG annahm und unter einer „Anpassung nach oben“ die rückwirkende Erhöhung der Zuschläge für Nachtschichtarbeit auf 50% anordnete.
Die Arbeitgeberinnen reichten daraufhin Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein – und waren erfolgreich. Mit am 19.02.2025 veröffentlichtem Beschluss hob das BVerfG die Urteile auf und verwies sie zur erneuten Entscheidung zurück an das BAG.
Entscheidung
Nach Auffassung des BVerfG verletzten die Entscheidungen des BAG die den Tarifvertragsparteien zustehende Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG. Das BAG habe in seinen Entscheidungen die Koalitionsfreiheit nicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt, so das BVerfG.
Zwar seien die Tarifvertragsparteien durchaus an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Die Regelung von Zuschlägen zur Vergütung von Nachtarbeit liege aber im Kernbereich der von Art. 9 GG geschützten, weiten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Zum Schutze der Tarifautonomie beschränke sich die Kontrollmöglichkeit in diesem Falle daher auf eine „Willkürkontrolle“.
Genau diesen Prüfungsmaßstab der Willkürkontrolle sah das BVerfG durch die Entscheidungen des BAG allerdings in mehrfacher Hinsicht verletzt. Zunächst ist die Ungleichbehandlung nach Auffassung des BVerfG vor dem anzuwenden Willkürmaßstab nicht zu beanstanden. Eine reine Willkür ist in der unterschiedlichen Bezahlung von Nachtarbeit unter Berücksichtigung der den Tarifparteien zustehenden Spielräume nicht ersichtlich gewesen. Denn die unterschiedliche Behandlung von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit ist sachlich zu rechtfertigen, da sie auf unterschiedlichen sozialen Belastungen und der Planbarkeit der Arbeitszeiten beruht. Diese Zwecksetzungen sind vom grundrechtlich geschützten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien erfasst.
Zudem ist auch die Entscheidung seitens des BAG zur „Anpassung nach oben“ verfassungsrechtlich fehlerhaft, die primäre Korrekturkompetenz der Tarifvertragsparteien hat nicht ausreichend Berücksichtigung gefunden. Selbst wenn Gerichte Rechtsverstöße – etwa in Form rechtswidriger Ungleichbehandlung – feststellen, so dürfen diese nach Auffassung des BVerfG die Tarifverträge nicht mit Wirkung für die Zukunft – und regelmäßig auch nicht für die Vergangenheit – selbst ändern. Eine etwaige Änderung steht primär den Tarifvertragsparteien zu, weshalb diese Gelegenheit hätten bekommen müssen, selbst eine neue Lösung zu finden, um den vom BAG festgestellten Verstoß gegen den Gleichheitssatz zu korrigieren.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Entscheidung des BVerfG mit sieben zu einer Stimme erging. Verfassungsrichter Heinrich Amadeus Wolff gab, dem Ergebnis zustimmend, ein Sondervotum hinsichtlich der Herleitung des Willkürverbots ab.
Die beiden Urteile des BAG wurden dementsprechend aufgehoben und an das Gericht zurückverwiesen.
Folgen der Entscheidung
Der Beschluss des BVerfG stellt eine Grundsatzentscheidung im Bereich der Tarifautonomie dar, durch die das Verfassungsgericht dem BAG klare Schranken aufweist. Der erste Senat formuliert in seiner Entscheidung unmissverständlich, dass die Gerichte bei der Überprüfung von den Kernbereich der Tarifautonomie betreffenden tariflichen Normen auf eine Willkürkontrolle begrenzt sind, und bringt somit ersehnte Klarheit in eine bisher eher undurchsichtige und durchwachsene Rechtsprechung zu verschiedenen Tarifwerken und ihrer unterschiedlichen Behandlung von Arbeitnehmenden in Nachtarbeit und Nachtschicht.
Hinweise für die Praxis
Das BVerfG beweist mit seinem Beschluss erneut die hohe praktische Relevanz seiner Entscheidungen auch im Kontext der Arbeitsgerichtsbarkeit. Nicht nur betont der erste Senat die alltäglich relevante, weitreichende Gestaltungskompetenz der Tarifparteien, er hebt auch die vorrangige Korrekturkompetenz dieser gezielt hervor.
Die unmissverständliche Absage an die bisher beinahe automatisch praktizierte „Anpassung nach oben“ lässt mit Spannung erwarten, wie das BAG diesen Beschluss auffasst und umsetzt. Die Erfolgsaussichten von Arbeitnehmerklagen auf die Erhöhung von Zuschlägen dürften sich jedenfalls verringern. Für Arbeitgeber bringt diese Entscheidung eine Stärkung des Vertrauens auf die Verbindlichkeit tariflicher Regelungen mit sich.
Ob und ggf. wie die Tarifparteien wiederum ihre nun explizit bestätigte primäre Korrekturkompetenz nutzen und die tariflichen Regelungen zu Nachtschichtzuschlägen anpassen, bleibt abzuwarten. Das deutliche Bekenntnis zur Tarifautonomie macht aber deutlich, dass sich die Gestaltung auch in diesem Kontext lohnt.